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Das Schicksal einer Bibliothek

Max Nettlau und Amsterdam*

Published online by Cambridge University Press:  18 December 2008

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Vor mehr als einem halben Jahrhundert suchte Arthur Lehning im Sommer 1924 auf der vielen so bekannten Adresse Lazarettgasse 32 den Geschichtsschreiber des Anarchismus und Biographen Michael Bakunins, den passionierten Sammler sozialistischer Literatur, den Historiker Dr Max Nettlau zum ersten Mal auf. Wie ein roter Faden wird sich Nettlau, der auch an der Wiege des Intemationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam stand, bis auf den heutigen Tag durch das Leben Lehnings ziehen.

Type
Research Article
Copyright
Copyright © Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis 1982

References

1 Zu seimen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: The Life of Michael Bakounine, 3 Bde, London 1896–1900 (Reprints New York 1969 und Mailand 1971); Bakunins Werke in deutsch: Gesammelte Werke, Bd 3, Berlin 1924 (Reprint Berlin 1975), in spanisch: Obras completas, 5 Bde, Buenos Aires 1925–29; drei grosse Studien über Bakunin in Italien, Spanien und Russland im Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Jg. 2 (1912), 4 (1914) und 5 (1915); Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864, Berlin 1925; Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859–1880, Berlin 1927; Anarchisten und Sozialrevolutionäre. Die historische Entwicklung des Anarchismus in den Jahren 1880–1886, Berlin 1931 (Reprint der drei Bände u.d.T. Geschichte der Anarchisten Glashütten/Ts 1972); Errico Malatesta. Das Leben eines Anarchisten, Berlin 1922 (Reprint Berlin 1973); Elisée Reclus, Anarchist und Gelehrter (1830–1905), Berlin 1928 (Reprint Glashütten/Ts 1977).

2 Anfang 1923 bat Steklov Nettlau um Mitarbeit bei den unter seiner Leitung im russischen Staatsverlag erscheinenden gesammelten Werken Bakunins. Nettlau lehnte jedoch ab, da er nicht mit einem Staat zusammenarbeiten wollte, der Anarchisten verfolgt: „Ich liebe Bakunin, aber mehr noch liebe ich meine jetzt lebenden Genossen, die Freiheit und Solidarität, und ich werde niemals etwas mit ihren Henkern zu tun haben.” Vgl. A. Lehning, „Michael Bakunin und die Geschichtsschreibung. Em Abriss der Bakunin-Forschung”, in: Michael Bakunins sozialpolitischer Briefwechsel mit Alexander Iw. Herzen und Ogarjow, Berlin 1977, S. 19–25. Kurz nach Erscheinen des vierten Bandes seiner Bakunin-Ausgabe (1935) wurde Steklov selbst verhaftet. Er starb 1941 68-jährig in einem russischen Konzentrationslager. Nettlau kannte die anderen russischen Bakunin-Spezialisten ebenfalls persönlich: A. A. Kornilov traf er 1904 in Paris, D. Rjazanov 1907 in Wien und V. Polonskij 1922 in München.

3 Nikolaevskij, B., „Max Nettlau”, in: Socialističeskij Vestnik. Central'nyj Organ Rossijskoj Social-Demokratičskoj Rabočej Partii (New York), 8. 08 1945, S. 571.Google Scholar

4 Lehning, „Michael Bakunin und die Geschichtsschreibung”, a.a.O., S. 11.

5 Ders, ., „Necrology of Max Nettlau”, in From Buonarroti to Bakunin, Leiden 1970, S. 20.Google Scholar

6 „Biographische und bibliographische Daten von Max Nettlau, März 1940”, in: International Review of Social History, Jg. 14 (1969), S. 45.Google Scholar

7 Rocker, R., Max Nettlau. Leben und Werk des Historikers vergessener sozialer Bewegungen, Berlin 1978, S. 237–38. Dieses Buch erschien zuerst 1950 in spanischer, 1956 in schwedischer Übersetzung. Der deutsche Anarchist Rocker (1873–1958) war seit 1895 mit Nettlau befreundet. Die Verfolgung der anarchistischen Bewegung Anfang der neunziger Jahre zwang ihn, ins Ausland zu gehen, 1892 erst nach Paris, 1895 nach seiner Ausweisung nach London, wo er unter den jüdischen Arbeitern grosse Aktivitäten ntwickelte. In kurzer Zeit lernte er als Nichtjude jiddisch und redigierte in dieser Sprache das anarchistische Wochenblatt Der Arbeterfraynd. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte er nach Deutschland zurück und baute die anarchosyndikalistische Bewegung auf.Google Scholar

8 Mündliche Mitteilung von Arthur Lehning.

9 Guillaume an Nettlau, 30. Dezember 1910, Archiv Nettlau, IISG. 1908 schrieb Guillaume einem französischen Genossen: „,En attendant que cette prophétie de Michelet [en 1855] — c'est-à-dire: ‚quand I'Allemagne sera I'Allemagne, ce Russe y aura un autel’ — se réalise, c'est un Allemand d'Autriche, le Dr Max Nettlau, qui a élevé à Bakounine le monument que lui devait la postérité.” Lehning, A., „Michel Bakounine et les historiens”, in: Bakounine. Combats et débats, Paris 1979, S. 37.Google Scholar

12 Kropotkin z.B. war es bis zu seiner RÜckkehr nach Russland Juni 1917 zur Gewohnheit geworden, Material, das er nicht selbst aufbewahren wollte, in einer für Nettlau bestimmten Kiste aufzuheben.

13 Nettlau an Siegfried Nacht, einen nach Amerika emigrierten österreichischen Anarchisten, 13. Juni 1920, IISG, auch in Rocker, Max Nettlau, a.a.O., S. 226–30. Vgl. Vuilleumier, M., „Les sources de l'histoire sociale: Max Nettlau et ses collections”, in: Cahiers Vilfredo Pareto, Revue européenne d'histoire des sciences sociales, Nr 3 (1964), S. 195205Google Scholar. — Als ich 1970 als Bibliothekarin des IISG begann, den Zeitschriftenkatalog mit etwa 30000 Titeln der Vorkriegssammlung für die Publikation in Buchform vorzubereiten, schiug ich dem bei der Koninklijke Bibliotheek in Den Haag angeschlossenen Centrale Catalogus van Periodieken die Aufnahme des IISG-Bestandes vor. Zuerst war man begeistert, als man die Titelmenge hörte, begann man zu zögern, als sich aber herausstellte, dass sicher 80% des Bestandes inkomplett und in vielen Fällen nur Einzelnummern vorhanden waren, lehnte man ab. Für soich eine Sammiung, die qua Umfang dem damaligen Zentralkatalog gleichkam, bestand kein Interesse. Auf dem Gebiet des Sozialismus und der Arbeiterbewegung ist sic eine der seltensten Kollektionen der Welt.

14 Joseph Ishill, 1888 in Rumänien geboren, emigrierte 1909 nach den USA und fand dort als Setzer Arbeit. 1923 gründete er The Oriole Press und gab mehrere bibliophile Bücher über u.a. Kropotkin und die Brüder Elie und Elisée Reclus heraus. — Wie sehr Nettlau jede Publizität um seine Person scheute, zeigte sich 1924, als der argentinische Anarchist L. J. Guerrero in aller Unschuld in dem Blatt Argonauta dazu aufgerufen hatte. Nettlau aus seiner bedrängten finanziellen Lage zu helfen. Ausser sich, bat Nettlau Lehning. alles zu unternehmen, dass diese „,wohlmeinende aber unentschuldbare” In-diskretion nicht auch von der niederländischen anarchistischen Presse ubernommen werden würde, und fügte hinzu: „Ich bin empört und niedergedrückt im höchsten Grade.”

15 Da er für die 1281 handgeschriebenen Seiten in folio keinen Verleger fand, zog er selbst fünfzig Exemplare nach einem ingeniösen Verfahren ab unter Zuhilfenahme von Gelatine, Pergamentpapier, einer Spezialtinte und Gummirollen. Er schickte je ein Exemplar an die Nationalbibhiotheken in London, Paris, Sankt-Petersburg und Brüssel, an die Königliche Bibliothek in Berlin und Dresden, an die Universitätsbibliotheken in Wien und Genf und an die Stadtbibliotheken in Bologna und Wien. Auch verschiedene Freunde, so Landauer und Kropotkin, erhielten ein Exemplar, und im Tausch bekarn er von H. P. G. Quack dessen De Socialisten.

16 5600 Mark nach dem damaligen Wechselkurs. Das Jahreseinkommen eines Zeitschriftenredakteurs betrug etwa 1800 Mark.

17 Nettlau hat in dreissig Jahren bis ca 1921 insgesamt etwa 50000 Goldfranken in seine Sammiung investiert.

18 Nettlau suchte selbst in jenen Jahren in der Umgebung von Wien gerodete Felder nach Kartoffeln ab.

19 Rocker, Max Nettlau, S. 212–15.

20 Der Syndikalist, Berlin 1919–33, war das Organ der Dezember 1919 gegründeten syndikalistischen Gewerkschaftsorganisation „,Freie Arbeiter-Union Deutschlands”. Lehnings erster Artikel, „,Der holländische Antimilitarismus”, erschien 1922 als Beilage zu Nr 49. Die „andern Blätter” sind wahrscheinlich Revolt, das Organ des norwegischen sozialanarchistischen Bundes und die österreichische Zeitschrift Erkenntnis und Befreiung, Organ des herrschaftslosen Sozialismus.

21 Als Lehning Nettlau 1935 mitteilte, dass er nun auf dem IISG arbeite, antwortete dieser, dass er sich freue, dass er statt Syndikalisten nun Bücher organisieren würde!

22 U.a. Ferdinand Domela Nieuwenhuis (1846–1919).

23 Nettlau, Erinnerungen und Eindrücke, Zweite Serie, Heft 1, S. 25–28, IISG. Er schrieb sie in achtundzwanzig engbeschriebene Schreibblöcke während des Zweiten Weltkriegs.

24 Der Fonds war 1914 von überwiegend aus der revolutionären Gewerkschaftsbewegung stammenden Gesinnungsgenossen Domela Nieuwenhuis' mit dem Ziel gegründet worden, ihn seiner finanziellen Sorgen zu entheben. Nach seinem Tod unterstützte er noch jahrelang Sohn und Witwe. nach dem Ableben letzterer am 3. April 1933 wurden die Gelder des Fonds zugunsten der Bibliothek verwendet.

25 „Die Bibliothek von Domela Nieuwenhuis passt ausgezeichnet in den Rahmen der Economisch–Historische Bibliotheek”, so Posthumus auf der Eröffnung am 25. Februar 1934. Und er fuhr fort, dass es in der Ökonomie nicht nur urn Geschäftstransaktionen und Waren ginge, sondern an erster Stelle urn den Menschen, den Arbeiter, deshalb sei auch eine besondere Abteilung für Material mit Beziehung auf die Arbeiterbewegung eingerichtet worden. De Syndikalist (Amsterdam), 3. März 1934. Nettlau war übrigens der Meinung, „dass F.D.N. kein eigentlicher Sammler war, wozu ihm Zeit, Geld, Konzentriertheit, Liebhaberei fehlten, sondern dass er wie em Gelehrter, Publizist, Politiker, Geistlicher, allbekannter Mann in 60 Jahren eine Masse Sachen sich anhäufen liess oder sich für Arbeiten besorgte, so dass die Bestände äusserst ungleichartig und unproportioniert sind.” Erinnerungen und Eindrücke, Zweite Serie, Heft 4, S. 162. Im Brief vorn 12. Juhi 1939 schreibt er an Annie Scheltema: „Bibliotheken sind eben wie Menschen: wenige sind von Interesse, aber jeder will doch dasein!”, IISG.

26 So Lehning in seiner Rede bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität von Amsterdam (Arthur Lehning. Amsterdam, 8 januari 1976, Amsterdam 1976, S. 20). Er fuhr fort: „Ich habe ihn vor gut einem halben Jahrhundert, urn genau zu sein vor 56 Jahren, in Rotterdam kennengelernt, als ich bei ihm Wirtschaftsgeschichte hörte. Nach meinem Fortgang aus Rotterdam habe ich den Kontakt mit ihm nie abbrechen lassen. Er war es, der mir 1935 die Mitarbeit bei der Gründung des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte anbot und der im Ruhestand, als Direktor des Verlags Brill in Leiden, die Initiative zur Herausgabe der Archives Bakounine nahm. Es hätte mich sehr gefreut — und ich bin überzeugt, ihn auch — wenn Posthumus dieser Feier hätte beiwohnen können.” Professor I. J. Brugmans schrieb über Posthumus: „Durch seinen Unterricht, mehr noch durch seine wissenschaftlichen Schriften, am meisten aber durch die Institute, die er gründete, wird er noch lange Jahre fortleben.” „In memoriam prof. mr. dr. Posthumus, N. W.”, in: Nieuwe Rotterdamse Courant, 20. 04 1960.Google Scholar

27 Vgl. Bibliografie van de geschriften van Nicolaas Wilhelmus Posthumus (1880–1960), Rotterdam 1981.

28 Bereits im Mai 1930 hatte die Stadtverwaltung von Amsterdam dem Ankauf der zwei Grundstücke auf der Herengracht sowie einer jährlichen Subvention von fI 4000 zugestimmt. Jahresbericht, des Vorstands, Economischndash;Historisch Jaarboek, Bd 17 (1931), S.XXXVI.Google Scholar

29 Boris, Nikolaevskij, dem früheren Mitarbeiter auf dem IISG. schrieb er hierüber im 11 1945: „At present I am very busy in the same function that you held at the time. The Government has appointed me president of the Board of the National Institute for the Documentation of the War. You were the dictator of a similar Institute in Russia at the time. In Holland, being a democracy, a triumvirate has been appointed.” Kopie, Archiv Lehning.Google Scholar

30 Winter, P. J. van, „Herdenking van Nicolaas Wilhelmus Posthumus (26 februari 1880 – 1818 04 1960)”, in: Jaarboek der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, 19601961, S. 346. Professor v. Winter gehörte dem Vorstand des IISG von 1935 bis 1948 an.Google Scholar

31 Nettlau, Erinnerungen und Eindrücke, a.a.O., S. 186.

32 Van|Winter, „Herdenking van Nicolaas Wilhelmus Posthumus”, a.a.O., S. 352.

33 Rüter, A.J. C., Historische studies over mens en samenleving, Assen 1967, S. 283.Google Scholar

34 Baldwin, Roger N. (1884–1981) war fünfundzwanzig Jahre lang Direktor der von ihm 1920 gegründeten American Civil Liberty Union.Google Scholar

35 Baldwin an Nettlau, 14. Januar 1925, Archiv Nettlau.

36 Vgl. Catalogus van de schenking-Quack, Amsterdam 1915. H. P. G. Quack (1834–1917) war u.a. Professor der Staatswissenschaften an den Universitäten zu Utrecht und Amsterdam und Direktor der Nederlandsche Bank. Sein Hauptwerk, De Socialisten. Personen en stelsels, ist noch stets eine der besten Übersichten der Geschichte der soziahstischen Ideen. Vgl. den Reprint (Baarn 1977) mit einer Einleitung von A. Lehning und einer ergänzenden Bibliographie von M. Hunink und A. Lehning, sowie die aus führliche Besprechung von Carl Grünberg in dessen Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Jg. 4, S. 150–54.

37 Lehning an Nettlau, 26. Februar 1928, Kopie Archiv Lehning.

38 Posthumus an Nettlau, 17. März, Archiv Nettlau.

39 Nettlau, Erinnerungen und Eindrücke, a.a.O., S. 163.

40 Nettlau an Lehning, 11. April, Archiv Lehning.

41 Im Juni 1979 holte ein Bericht über die Bibliothèque Nationale in Paris die Tagespresse: 700000 Bücher mussten wegen ihres besorgniserweckenden Zustandes aus der Benutzung genommen werden. Die Ursache sei im Qualitätsruckgang des Papiers zu suchen, das seit 1870 im Umlauf ist; bei der Papierherstellung wurde damals der Lumpenanteil durch das säurehaltigere Holz ersetzt. Würden keine effektiven Massregeln getroffen, läge in fünf Jahren die Zahi der nicht benutzbaren Bücher bei fünf Millionen. NRC Handeisblad, 27. Juni 1979.

42 Nettlau, Erinnerungen und Eindrücke, a.a.O., S. 199.

43 Posthumus an Nettlau, 5. Juni, Archiv Nettlau.

44 Economisch-Historisch Jaarboek, Band 15 (1929), S. xxxvii–xxxviii.Google Scholar

45 Anthony George Krüller (1862–1941), Mitbegründer der Rotterdamer Handeishochschule, nahm einen wichtigen Platz in der niederländischen und internationalen Handelswelt ein. Die durch seine Frau und ihn erworbene weltberühmte Kunstsammlung bildete den Grundstock des 1938 eröffneten Rijksmuseum Kröller-Muller zu Otterloo.

46 Lehning an Nettlau, ca 22. September, Archiv Nettlau.

47 Nettlau an Lehning, 25. September, Archiv Lehning. Auf den Umschlag von Lehnings Brief machte sich Nettlau folgende Notiz: „Emste Lage, aber ich muss standhalten!”

48 Nettlau, Erinnerungen und Eindrucke, a.a.O., S. 187.

49 Mehr als drei Jahre später schreibt Nettlau Lehning über diese Stunden: „und dann wurde mir auf einmal gesagt u(ungefähr so und sehr höflich): ‚Sie scheinen nicht zu wissen, dass Sie nicht mehr der Besitzer sind. Der Besitzer ist seit gestern die Archivgesellschaft.” Da stürzte ich in einen Abgrund und war wie vor den Kopf geschlagen, aber wie ich es immer in grosser Gefahr getan habe, instinktiv, ich blieb ganz ruhig. Es war wie, als ich einmal in der Mont Blanc Gruppe auf einem steilen Eisfeld ausrutschte und der Spalte zu hinabglitt: ich sagte kein Wort, sah mich heruntergleiten, hackte aber im letzten Moment den Fuss so fest in eine dünne Ritze im Eis, dass er tief einschlug, einen Halt gewann und das war em Meter vor der Spalte und ich kroch dann sehr langsam aufwärts, dem Feisrand zu. — So war mir damals angesichts des gähnenden Abgrundes — ich sollte schon verkauft sein und das jetzige Reden sei nur Höflichkeitssache — die Besitzer können schon verlangen.” Nettlau an Lehning, Dezember 1931, Archiv Lehning.

50 Nettlau, Erinnerungen und Eindrücke, a.a.O., S. 188–91.

51 Kopie Archiv Lehning.

52 Ebd.

53 Lehning an Nettlau, 25. 11 1928, Archiv Nettlau.Google Scholar

54 Lehning an Nettlau, 6. 04 1932, Archly Nettlau. Als der über den Verlauf der Verhandlungen durch Lehning unterrichtete Roger Baldwin auf dessen Bitte einen sehr guten Freund Nettlaus in Amerika, M. A. Cohn, zu Hilfe rief, schrieb dieser ihm: „Nettlau simply hates like poison to part from his books. They seem to be his wife, children and his very life.” (3. Januar 1929, IISG) Im selben Sinn hatte nach ergebnislosen Verhandlungen über den Ankauf der Bibliothek Dr Weil, der Gründer und Finanzier der Gesellschaft für Sozialforschung, des berühmten „Frankfurter Instituts”, an Nettlau im März 1924 geschrieben: „Wir sind wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden [Notiz von Nettlau: „von welchem Denunzianten?’] und müssen nach dem Verlauf der bisherigen Verhandlungen auch aus eigener Erfahrung zum Schlusse gelangen, dass Sie selbst vorläufig innerlich noch gar nicht entschlossen sind, die Bibliothek abzugeben, sondern nur mit dem Gedanken daran spielen.” Nettlau schrieb hierbei: „Grob zu sein hat er keine Veranlassung. Gut, dass die Sache zuende ist!” Archiv Nettlau.Google Scholar

55 Von Lehning rezensiert in Die Intenationale (Berlin), Juli 1929. Er stand mit Kobler seit 1925 in Verbindung.Google Scholar

56 Lehning an Nettlau, 27. 11 1931, Archiv Nettlau.Google Scholar

57 Nettlau an Lehning, 04 1932, Archly Lehning.Google Scholar

58 Nettlau, Erinnerungen und Eindrucke, a.a.O., S. 196. Was übrigens Moskau betraf, versuchte Rjazanov, der Gründer und Direktor des dortigen Marx-Engels-Instituts, 1925 die Sammlung Nettlaus durch Vermittlung von Carl Grünberg zu erwerben. Über die Kaufsumme würde man sich zweifellos einig werden können, ausserdem würde man Nettlau in Moskau „eine geeignete Wohnung zur Verfügung [stellen], sowie einen Arbeitsraum, wo Sie unter Benutzung des im Marx-Engels-Institut, sowie in allen russischen Archiven vorhandenen Materials Ihr grosses Werk über Bakunin in vollster Ruhe vollenden könnten”. Pollock an Nettlau, 19. August 1925, Archiv Nettlau. Rjazanov wurde 1931 von Stalin entlassen, verhaftet und danach „administrativ” verbannt. Er starb 1938, wo und unter welchen Umständen ist nicht bekannt.

59 Amsterdam 1932–35 (Reprint 1979). In den Jahren 1927 bis 1929 ist sein Name auch unter den Mitarbeitem der von Lehning redigierten i 10 zu finden, einer Monatsschrift für moderne Architektur, Kunst, Literatur und Politik (Internationale revue, i 10, Amsterdam 1927–29, Reprint 1979). Nettlau verstand nicht viel von moderner Kunst. Kandinskys Werke liessen ihn nach dem Kaleidoskop seiner Kindheit zurückverlangen, und seit er in i 10 eine Abbildung von Mondriaans Atelier gesehen hatte, verstand er, warum der Kunstler nicht mehr Inspiration besass. Nettlau an Lehning, 31. Januar 1927.

60 Rocker an Nettlau, 27. 09 1933Google Scholar, Archiv Nettlau. Bereits drei Jahre vorher hatte er ihm geschrieben: „Vorausgesetzt, dass wir überhaupt noch lange mit unsrer Arbeit ungestört angehen können; denn das Feuer des Fascismus brennt uns auf den Fingernägeln, und Gnade uns Gott, wenn diese Bande siegt. Italien wird der reinste Kindergarten gegen em offenes fascistisches Deutschland sein.” (30. Dezember 1930, ebd.) Der Brief vom September 1933 ist ein bewegendes Zeugnis eines Menschen, der nur mit knapper Not direkt nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar der Barbarei der Nationalsozialisten mit seiner Familie zu entflüchten wusste. Er liess seine Bibliothek zurück, die vernichtet wurde, er liess aber auch einen seiner besten Freunde, Erich Mühsam, züruck, der am selben 27. Februar eine Zugkarte nach Prag gekauft hatte, zuhause noch Koffer packen wollte, dort aber verhaftet und nach unvorstellbar grausamen Misshandlungen am 9. Juli 1934 im KZ Oranienburg ermordet wurde.

Rocker focht Nettlaus auf die Dreyfussaffäre verweisende Überzeugung an, dass das, was in Deutschland geschah, auch in jedem anderen Land geschehen könne. Aber wo, fragte Rocker, wurden damals wehrlose Opfer gefoltert und in Konzentrationslager verschleppt; wo ist es jemals geschehen, dass eine Regierung einen Judenboykott organisierte? „Wo hat man gesehen, dass tausende von Privatbibhiotheken zerstört wurden, dass gebildete Hooleganes die ‚undeutschen’ Bücher auf öffentlichen Scheiterhaufen verbrannt haben und dass sich Hunderte von deutschen Professoren dazu hergaben, für die Regierung die undeutschen Bücher aus den öffentlichen Bibhiotheken auszumerzen? Zeigen Sie mir irgend ein anderes Land, in dem man einer solchen Schar von intehlektuehlen Halunken begegnen kann. […] In Frankreich fand sich em Zola, der den Mächten der Reaktion sein ‚Ich klage an!’ entgegenschleuderte. In Deutschhand aber schreibt ein Gerhard Hauptmann einen Prolog zu einer Horst-Wessel-Aufführung [hellip;]. Es gab und gibt Reaktionäre in alien Ländern, aber eine soiche Kotflut wie heute in Deutschland, einen soichen Triumph des Untermenschentums hat die Geschichte noch in keinem Lande gesehen.”

61 De Jong an Brupbacher, 24. 11 1933; De Iongh an Brupbacher, 9. Dezember. Archiv Brupbacher, IISG.Google Scholar

62 Brupbacher an Nettlau, 3. und 17. Dezember, Archiv Nettlau.

63 Nettlau, Erinnerungen und Eindrücke, Zweite Serie, Heft 7, S. 164. Max, bekannt unter dem Namen Max Nomad, 1st der jüngere Bruder von Siegfried Nacht.

64 Cornelissen an Annie Scheltema, 24. Juni 1934, IISG. Christiaan Cornelissen (1864–1942), Organisator der ersten, 1893 gegründeten niederländischen Gewerkschaftszentrale, des revolutionär-syndikalistischen Nationaal Arbeidssecretariaat. 1892 erschien von ihm eine Übersetzung des Kommunistischen Manifests, die erste in niederländischer Sprache. Ab Mai 1898 lebte er in Frankreich. Lehning veröffentlichte über ihn einen biographischen Beitrag im Mededelingenblad Sociaal-Historische Studiekring (Amsterdam), Nr 6 (1955), und gab in der Nr 10 (1957) einige Fragmente aus seiner Autobiographie heraus.

65 Nettlau an Cornelissen, 3 1. Januar 1935. Diesen Brief legte Cornelissen seinem Brief vom 30. März an Annie Scheltema bei. IISG.

66 Er starb achtundfünfzigjährig im Juni 1940.

67 A. Lehning, B. Nikolaevskij, A. J. C. Rüter, B. Sapir und H. Stein. Ein Pressebericht von Anfang 1936 meldete, dass „das Institut durch regelmässige Publikationen zu einem genaueren Studium und einer grösseren Kenntnis des Tatsachenmaterials beizutragen hofft, das die Basis der anscheinend so verwirrenden Struktur unserer gegenwärtigen Geseilschaft bildet”. Viele Besprechungen fanden zur Frage der anzuwendenden Bibliothekssystematik statt. Auf Lehnings Bitte teilte ihm Nettlau ausführlich seine Aufrassung über eine gute Systematik mit, u.a. schrieb er: „Auch Bücher sind Wesen, die man von unten nach oben gruppieren kann, aber nicht von oben nach unten einordnen soil.”

68 A. Adama van Scheltema-Kleefstra, Herinneringen van de bibliothecaresse van het Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam o.J. Diese Erinnerungen hat sie 1968–69 in meinem Beisein auf Band diktiert. Sie erschienen anlässlich ihres 93. Geburtstages am 25. Februar 1977 in einer kleinen Auflage und wurden als „Herinneringen van de bibliothecaresse van het Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis” im Tijdschrift voor Sociale Geschiedenis, Jg. 4 ( 1978), S. 141–76, nachgedruckt. Eine deutsche Übersetzung erschien im Mitteilungsblatt des Instituts zur Geschichte der Arbeiterbewegung (Bochum), Nr 4 (1979), S. 744. Zu gewissen Textabweichungen, bzw. -änderungen vgl. Anm. 64 in der ursprünglichen niederländischen Fassung meines Artikels.Google Scholar

69 Er bot Lehning vier Manuskripte an, die die Geschichte des Anarchismus von 1886 bis 1914 und manchmal noch darüber hinaus umfassten. Der erste Teil hiervon ist 1981 als Band IV der Geschichte der Anarchie u.d.T. Die erste Blütezeit der Anarchie: 1886–1894 im Topos Verlag, Vaduz, erschienen.

70 Lehning, „Michael Bakunin und die Geschichtsschreibung”, a.a.O., S. 43.

71 Ausser Tausenden Seiten Manuskripte enthält der Nachiass die aus 1542 Briefen bestehende Korrespondenz zwischen Marx und Engels sowie 4400 an sie gerichtete Briefe Dritter.

72 Nettlau, , Erinnerungen und Eindrücke, Erste Serie, Heft 15, S. 4950. Am 21. 11 1924Google Scholar hatte Alexander Berkman an Nettlau geschrieben: „Today I write to you on business, very important. It is in behalf of the Russian Menshevik Nikolayevski, who is interested in revol. archives. He is an old comrade and responsible man. Just now he has been authorised to collect the archives in re Marx and Engels, and the other day he took over the archive of Bernstein.” Er wollte wissen, ob Nettlau bestimmtes Material h¨tte. Zwei Wochen später reagierte Berkman am 8. Dezember auf Nettlaus Antwort: „As to Nikolayevsky, he tells me that he has nothing in common with the Russian Government editions, but that he is or will work with Riasanov's institution.” Nettlau merkte hierzu an: „I will have nothing to do with Nik. M.N.” Archiv Nettlau. Alexander Berkman (1870–1936), russisch-amerikaniseher Anarchist, verbrachte nach einem misslungenen Attentat auf den arnerikanischen Fabrikdirektor Henry Clay Frick vierzehn Jahre im Zuchthaus, davon zehn Jahre in einer Isolierzelle; vgl. sein Buch Prison Memoirs of an Anarchist (1912, deutsch u.d.T. Die Tat, Berlin 1927). 1919 wurde er mit vielen anderen, unter ihnen Emma Goldman, nach Russland deportiert. Nach dem Matrosenaufstand in Kronstadt 1921 verliess er Russland und kritisierte die Sowjetunion in The Russian Tragedy (1922), The Kronstadt Rebellion (1922) und The Bolshevik Myth (1925).

73 Sein dieses Thema behandelnder Artikel erschien im Band 1(1936) der International Review for Social History unter dem Titel „M. A. Bakunin in der ‚Dresdner Zeitung’ (Eine Episode aus der Geschichte des politischen Kampfes in Deutschland in den Jahren 1848/49)”.

74 Nettlau, , Erinnerungen und Eindrücke, a.a.O., S. 51Google Scholar. Während eines Spaziergangs in derselben Gegend urn Neuwaldegg hatte Nettlau einern amerikanischen Freund 1922 ebenfalls eine Stelle im Wald gezeigt, wo man aus Mangel an Brennholz eine Gruppe prächtiger alter Bäume gefällt hatte. Nettlau war über das, was er „Vandalismus” nannte, sehr entrüstet. „Er hatte buchstäblich Tränen in den Augen, als er mir die hunderte von alten Baumstümpfen zeigte, die rnelancholisch aus der Erde hervorragten.” Rocker, Max Nettlau, 5. 209.

75 Nikoiaevskij an Posthumus, 28. 09 und 12. Oktober 1935, IISG.

76 Dies handgeschriebene Dokument ist bis heute noch nicht gefunden, auf dem IISG befindet sich aber eine maschinenschriftliche Fassung, datiert „Wien, I. 11 1935”, in der es u.a. heisst: „Dieser Entwurf zeigt meine voile Bereitwilligkeit in dieser Sache zu einem zufriedenstellenden Abschluss zu gelangen.”

77 Adama van, Scheltema, „Herinneringen van de bibliothecaresse”, a.a.O., S. 147–49.Google Scholar

78 Einen Monat später teilte er Brupbacher begeistert mit, dass der Ofen geliefert worden war, und gab eine minuziöse Beschreibung seines Aussehens.

79 Bernhard Mayer, Freund und Bewunderer Kropotkins, Malatestas, Landauers und Brupbachers. Letzter machte ihn auf Nettlaus aussichtslose finanzielle Situation aufmerksam. Ausser einem monatlichen Zuschuss von dreissig Schweizer Franken stellte Mayer im August 1932 auch einen Teil seines Hauses in Ascona für Nettlaus Sammlung zur Verfügung und versorgte und finanzierte den Transport der Kisten aus Paris und London. Es ergaben sich vübrigens bei dem Transport aus London überhaupt keine Schwierigkeiten; der Direktor des Chancery Lane Safe Deposit dankte Nettlau „for your kind reference to our small services to you during the past 41 years”.

80 Nettlau an Brupbacher, 16. 11 1935, Archly Brupbacher.

81 Nettlau an Lehning, 15. Dezember, Archiv Lehning.

82 Adama van Scheltema, “Herinneringen van de bibliothecaresse”, S. 149–50.

83 Nettlau an Brupbacher, 26. Januar 1937 und 27. Februar 1938, Archiv Brupbacher. In dem letzten Brief schrieb er noch einmal über die holländischen Radfahrer und Autos: „die Diktatur des radfahrenden Proletariats und der im Auto transportierten Bourgeoisie, zwei Mahisteine, zwischen denen die sich noch mit einfachen Füssen bewegende Resten von Untermenschen wie ich, zermalmt werden.”

84 Vgl. Adama van Scheltema, „Hennneringen van de bibliothecaresse”, S. 151–55.

85 Posthumus an Nettlau, 5. 08 1938, Archiv Nettlau.

86 Vgl. „Biographische und bibliographische Daten von Max Nettlau”, a.a.O., S. 465.

87 Aus demselben Grund wurde im April 1939 in Amboise (Loire) em Haus gemietet, in dem ein Teil der Archive aus der Pariser Filiale untergebracht wurden. Während die Bibliothek der Filiale im Krieg verloren gehen sollte, wurden die Archive in Amboise teilweise gerettet.

88 Posthumus wusste in diesen Tagen noch ca zwanzig Kisten mit seltenen Broschüren aus dem Institut zu schaffen. Die Centrale wurde kurz darauf unter nationalsozialistische Verwaltung gestelit. Die Pariser Filiale wurde bereits am 17. Juni besetzt und 1941 ausgeplündert.

89 In demselben Bericht wird Lehning genannt als „wahrscheinlich Anarchist’, Nikolaevskij und Sapir als Trotzkisten, Rüter als „ein holländischer Marxist” und Annie Scheltema als „steht auf dem äussersten linken Flügel” der SDAP!

90 Anton Bakels (1898–1964), niederländischer Verleger und Sammier mit vielen freundschaftlichen Kontakten zu Anarchisten des In- und Auslandes. Nach dem Reichstagsbrand brachte Lehning bei ihm in Berlin die historisch wichtige Bibhiothek des Londoner Arbeiterbildungsvereins in Sicherheit; sie befindet sich jetzt im IISG. In diesen Jahren bemühte sich Bakels auch urn die Rettung bedrohter Revolutionäre.

91 Adama van Schelterna an Mollie Steimer, 23. Juli 1945, in Rocker, Max Nettlau, S. 300.

92 Ebd., S. 305.