Das Fehlen eines rechten Verhältnisses zwischen den Göttern und der Gerechtigkeit ist ein Hauptproblem in der Geschichte der griechischen Religion. Es trug in hohem Mass zu ihrer Auflösung bei. Die Griechen setzten sich mit wahrer Leidenschaft für die Gerechtigkeit ein, meistens in der Form der vergeltenden Gerechtigkeit, παθέῖν τὸν ἔρξαντα. Das kommt auch zum Ausdruck in dem zuerst von Solon ausgesprochenen und seitdem oft wiederholten Wunsch: “Möge ich meinen Freunden süss, meinen Feinden bitter sein.” Unsrer christlich beeinflussten Moral ist er befremdlich. Es hängt dies mit ihrer mehr oder weniger demokratischen Staats- und Gesellschaftsform zusammen. In anderen Religionen fehlt das Problem: zwar wird die Gerechtigkeit hoch geschätzt, ein jeder wünscht ein gerechtes Urteil, man beugt sich aber vor der Macht der Götter, der Herrscher, der Priester, ohne weiter zu fragen. In Griechenland gab es keine Priesterschaft, die Priester waren Bürger wie die anderen Glieder des Staates. Das Königtum war früh geschwunden oder machtlos geworden. Der Tyrann wurde als eine Ausgeburt der Ungerechtigkeit betrachtet, und auch ein legitimer König, der sich eine ausserordentliche Machtstellung erworben hatte wie Pheidon, wurde für einen Tyrannen gehalten. Die Autorität, die etwas anderes als die blosse Macht ist, verkörpert sich am ehesten in einem Einzelnen, weniger in einer Körperschaft, wie es der Adelsstaat war, noch weniger in einer launenhaften Volksversammlung. So geht das Verlangen nach Gerechtigkeit Hand in Hand mit der Demokratisierung, erstarkt mit dieser und endet mit ihr in der Nivellierung.