Ueber Anmuth und Würde
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Published online by Cambridge University Press: 05 February 2013
Summary
[NA 251]
Die griechische Fabel legt der Göttinn der Schönheit einen Gürtel bey, der die Kraft besitzt, dem, der ihn trägt, Anmuth zu verleyhen, und Liebe zu erwerben. Eben diese Gottheit wird von den Huldgöttinnen oder den Grazien begleitet.
Die Griechen unterschieden also die Anmuth und die Grazien noch von der Schönheit, da sie solche durch Attribute ausdrückten, die von der Schönheitsgöttinn zu trennen waren. Alle Anmuth ist schön, denn der Gürtel des Liebreizes ist ein Eigenthum der Göttinn von Gnidus; aber nicht alles Schöne ist Anmuth, denn auch ohne diesen Gürtel bleibt Venus, was sie ist.
Nach eben dieser Allegorie ist es die Schönheitsgöttinn allein, die den Gürtel des Reizes trägt und verleyht. Juno, die herrliche Königinn des Himmels, muß jenen Gürtel erst von der Venus entlehnen, wenn sie den Jupiter auf dem Ida bezaubern will. Hoheit also, selbst wenn ein gewisser Grad von Schönheit sie schmückt, (den man der Gattinn Jupiters keineswegs abspricht) ist ohne Anmuth nicht sicher, zu gefallen; denn nicht von ihren eignen Reizen, sondern von dem Gürtel der Venus erwartet die hohe Götterköniginn den Sieg über Jupiters Herz.
Die Schönheitsgöttinn kann aber doch ihren Gürtel entäussern und seine Kraft auf das Minderschöne übertragen. Anmuth ist also kein ausschließendes Prärogativ des Schönen, sondern kann auch, obgleich immer nur aus der Hand des Schönen, auf das Minderschöne, ja selbst auf das Nichtschöne, übergehen.
Die nehmlichen Griechen empfahlen demjenigen, dem bey allen übrigen Geistesvorzügen die Anmuth, das Gefällige, fehlte, den Grazien zu opfern.
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- Schiller's 'On Grace and Dignity' in its Cultural ContextEssays and a New Translation, pp. 171 - 222Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2005