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Goethes Gnostiker: Fausts vergessener Nihilismus und sein Streben nach Erlösungswissen

from Special Section on Goethe and the Postclassical: Literature, Science, Art, and Philosophy, 1805–1815

Published online by Cambridge University Press:  14 March 2018

Stefan Hajduk
Affiliation:
Mary Immaculate College, University of Limerick
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Summary

I. Einleitung: “In deinem Nichts hoff’ ich das All zu finden” (6256)

WIE KOMMT ES, dass die auf 200 Jahre angewachsene, kulturzeitliche Distanz zur Veröffentlichung des Faust Erster Teil im Jahr 1808 dessen Deutungsbeliebtheit samt gegenwartsorientierter Reflexivität nicht be einträchtigt? Sieht man von anderen Faktoren wie etwa dem im Text selbst verankerten gattungsgeschichtlichen Symbolwert Fausts, seinen “wiederholten Spiegelungen” (WA 1:56–57) ins Transzendente oder von dem der Eigendynamik des Rezeptionsstromes einmal ab, so kann eine Antwort in der kompositionellen Grundstruktur gefunden werden. Es ist namentlich deren synkretistisches Element, welches zur Stabilität der Fausttragödie als protodramatisches Schicksalsparadigma inmitten und trotz des Wandels der Wirkungsgeschichte, Rezeptionsinteressen und Deutungsperspektiven beiträgt.

Der über sechzig Jahre andauernden, poetischen Verarbeitung einer Vielzahl von diskursiven Einflusslinien im Faust entspricht die biographisch nachhaltig wirksame, weltanschauliche Beschäftigung des jungen Goethe mit den frühneuzeitlichen Wissensbeständen der hermetischen Tradition, wie sie die gründliche Studie von Zimmermann herausgearbeitet hat. Bekanntlich erwähnt der alte Goethe in Dichtung und Wahrheit mit Bezug auf die Frankfurter Rekonvaleszenzzeit, dass er damals lernte, den “Stammbaum” dieser Denktradition “in gerader Linie bis zur neuplatonischen Schule verfolgen” zu können. Diese aber bildete für die Gnosis seit dem 2. Jahrhundert ihrerseits das philosophische Milieu, in welchem sie vorwiegend jüdische, christ liche und hellenistische Weltbildkomponenten zusammenschaute.

Das von Goethe für die Gestaltung des Dramas ausgewertete Material war gewissermaßen bereits in synkretistischer Form überliefert, insofern es sich einerseits von der Heterogenität des frühneuzeitlichen Diskursfeldes und andererseits vom vielfältigen Stoff des historischen Faust herschrieb. Um den volkstümlich schillernden Faust, der den Zeugnissen nach als eine Art esoterischer Freak (Astrologe, Phantast, Scharlatan, Quacksalber) um 1500 auftauchte, rankten sich bekanntlich schon bald zahlreiche Legenden. Bereits seit der Jahrhundertmitte wurde er von Zeitgenossen wie Melanchthon als häretischer Gaukler und typischer Teufelsbündner diffamiert. Die 1587 erschienene und schnell weitverbreitete Historia von D. Johann Fausten dem weitbeschreyten Zauberer unnd Schwartzkünstler kompilierte das heterogene Hörensagen seiner Zeit und reicherte es mit phantastischen, schwankartigen und mythologischen Materialien zu einem zeitgenössischen Abenteuersynkretismus an. Dieses lose Zusammenspiel von teils Überliefertem, teils Erfundenem in engem Bezug zur religiösen Mythologie scheint dem zeitgenössischen Bedarf an weltanschaulicher Selbstvergewisserung und mo ralischer Orientierungssuche entgegen gekommen zu sein, wie der publizistische Erfolg bis ins 18. Jahrhundert hinein nahelegt.

Der Erfolg von Goethes Faustdrama kann zu seinem inkommensurablen Teil auf das virtuose Zusammenspiel von metaphysischen, heilsgeschichtlichen und epistemologischen Vorstellungen zurückgeführt werden.

Type
Chapter
Information
Goethe Yearbook 17 , pp. 89 - 116
Publisher: Boydell & Brewer
Print publication year: 2010

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