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Lazzaroni. Zu einer Poetik der verwischten Spur in Büchners Leonce und Lena und bei Brecht
from Focus: Brecht & Büchner
Summary
“Theater der Revolution,” oder “Theatralität der Revolution”: – man ist versucht, das mit Ostentation, mit Zur-Schau-Stellung der Revolution zu verwechseln, mit einem showing-off vielleicht sogar. Nun müssen sich aber Revolutionäre zunächst und zumeist, zu allen Zeiten und fast an allen Orten, im Verborgenen halten; der Revolutionär darf gerade nicht damit hausieren gehen, dass er Revolutionär ist. Das Revolutionär-Sein ist bei den Mächtigen der Welt zumeist nicht besonders gut angeschrieben. Unsere gegenwärtigen liberal-demokratischen Gesellschaften sind da sicherlich eine historische Ausnahmeerscheinung: Bei uns gilt es als chic oder gar als gesellschaftlich überlebensnotwendig, revolutionär zu sein. Aber auch das ist ein lokal sehr begrenztes Phänomen – Berlin-Mitte ist da sicherlich besonders herausgehoben –, und vielleicht kann man aus dieser Ausnahme auch schließen, dass es den ostentativen Revolutionären unserer Gegenwart nicht allzu Ernst um die Revolution zu tun sein kann; und das wiederum weiß der Kapitalismus, der “pokerfaced man,” wie er bei Brecht heißt, nur allzu gut.
Wenn ich “Theatralität der Revolution” mit Ostentation übersetze und dann eine gewisse Skepsis äußere, dann setze ich aber vielleicht einen zu engen Begriff von Theater und Theatralität an. Es gibt vielleicht auch ein Theater der Revolution, das zeigt, dass und wie sich die Revolution und die Revolutionäre im Verborgenen halten; ein Theater der Revolution, das die Revolutionäre nachgerade darin einübt, sich im Verborgenen zu halten und ihre Spuren zu verwischen: ein Theater der Verschwörung, des Geheimbundes, der Kommunikation über Losungsworte. Ein solches Theater könnte die Frage der Revolution vielleicht auch für uns wieder neu und anders auf die Tagesordnung setzen; dass es in der Gegenwart ein zumindest diffuses Bedürfnis nach revolutionärer Verschwörung gibt, das könnte man aus der Furore schließen, für die vor einiger Zeit das poetisch-politische Pamphlet Der kommende Aufstand gesorgt hat: eine kleine Schrift, die über weite Strecken nichts anderes als eine Verhaltenslehre des revolutionären Lebens im Verborgenen darstellt. Vielleicht, so wäre zu hoffen, lassen sich unsere Reflexionen über ein revolutionäres Theater der Verborgenheit auch nutzen, solche Verschwörungsszenarien kritisch zu überprüfen.
Ein Theater der Verschwörung, des Geheimbundes, der Kommunikation über Losungsworte – das leitet über zum notorischen Verschwörer und Umstürzler Georg Büchner und, vielleicht überraschend, zu Leonce und Lena. Bevor ich in diese Richtung weitergehe, muss ich aber zunächst noch einen kleinen Umweg nehmen, einen Umweg über einige Basisbanalitäten die Wahrheit betreffend, und einen Umweg über Wladimir Iljich Lenin.
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 39The Creative Spectator, pp. 196 - 217Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2016