Book contents
“Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.” Materialismus und Revolution bei Brecht und Büchner
from Focus: Brecht & Büchner
Summary
“Die toten Steine atmen. Sie verändern sich und veranlassen Veränderungen. Selbst der totgesagte Mond bewegt sich… Und wenn er nur einen erschräke, der ihn sieht, ja wenn ihn nur einer sähe, so wäre er nicht tot, sondern lebte.” In Texten Brechts wird Materie als ‘lebendig’ konzipiert, da sie an der Konstitution von Realität aktiv mitwirkt. Während in einer an Kant geschulten oder hermeneutischen Theorie der Erkenntnis davon ausgegangen wird, dass Objekte vom Subjekt her konstituiert werden, was das Objekt ‘an sich’ letztlich unerkennbar macht, strukturieren Objekte und Subjekte sich gemäß dem dialektischen Erkenntniskonzept, das in Brechts Texten Anwendung findet, gegenseitig. Materie, aber auch Materialien, Texte wie Körper werden so zum Hort von Widerständen ebenso wie von herrschenden Strukturen, die im Prozess der Realitätskonstitution unterschiedliche Bedeutung erlangen können. Brechts Poetik setzt voraus, dass dieser Prozess zumindest nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen steuerbar ist, wobei die Steuerung nicht nur von allen, sondern von allem beeinflusst wird, wenn auch in unterschiedlicher Intensität.
Dementsprechend wird auch die Revolution als prototypische Figur der Realitätsveränderung nicht von einem subjektiv-geistigen Willensakt oder von moralischen Idealen ausgehend gedacht. Vielmehr generiere sie sich innerhalb einer veränderlichen, von relationalen und funktionalen Beziehungen bestimmten Konstellierung. Die Frage, wie und warum sich eine Revolution anbahnt, wird zum Teil durch sehr komplexe Zusammenhänge in Politik und Wirtschaft erklärt, etwa in Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar (1938-1940), letztlich aber immer wieder auf materielle Ungleichverteilung zurückgeführt, die sich als physische Leiderfahrung äußert – als Hunger, Kälte, Krankheit, Verletzung oder Mangel. Unter dem Vorzeichen einer materialistischen Realitätskonzeption sind diese Erfahrungen nicht nur Zustände eines individuellen Bewusstseins, sondern in erster Linie physische Zustände.
In der frühen lyrischen und dramatischen Produktion Brechts tritt als ein solcher Zustand zunächst die Lusterfahrung stärker hervor, die gerade auch im Modus der literarischen Gestaltung artikuliert wird.
Der Umgang mit der sprachlichen Materie wird hier als Spaß oder Genuss vorgeführt. Der im Frühwerk vielfach thematisierte Tod und Todeskampf – etwa der Titelfigur in Baal (1918, 1919, 1920-1922…) – dient eher der Steigerung einer Inszenierung von Lebenslust als ihrer Relativierung. Man kann hier von einer Anleihe beim Vitalismus ausgehen, jedoch wird dieser sozusagen materialisiert und erhält zugleich komische Qualitäten. Das Leben tritt in diesen Texten niemals als Abstraktum auf, sondern allenfalls als leidender, lustvoller oder auch lustiger Körper – man denke etwa an den parodistischen Text Die Ballade vom Liebestod (29.8.1921).
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- The Brecht Yearbook / Das Brecht-Jahrbuch 39The Creative Spectator, pp. 236 - 257Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2016