Elliott Schreiber, The Topography of Modernity: Karl Philipp Moritz and the Space of Autonomy. Signale: Modern German Letters, Cultures, and Thought. Ithaca, NY: Cornell UP, 2012. 179 pp.
Published online by Cambridge University Press: 27 May 2021
Summary
Karl Philipp Moritz (1756–93) gehört zu den entscheidenden intellektuellen Impulsgebern der klassisch-romantischen Literatur und Kultur in Deutschland. In seinem kurzen und dabei so unendlich produktiven Leben hat er in den unterschiedlichsten Wissensgebieten Spuren hinterlassen, die weit über die Goethezeit hinaus gewirkt haben. Diese Spuren jedoch scheinen retrospektiv nur schwer harmonisierbar. So eroberte Moritz dem modernen psychologischen Roman mit seinem autobiographischen Anton Reiser (1785–90) ganz neue Darstellungsmöglichkeiten, während er zeitgleich mit den Andreas Hartknopf- Romanen Modelle radikal esoterischen und allegorischen Schreibens entwickelte. Als Professor für Ästhetik an der Berliner Akademie der Künste verfolgte Moritz ein elaboriertes Projekt der Ästhetisierung des Alltags durch Gebrauchskunst, während er zugleich ein radikales Konzept künstlerischer Autonomie ausformulierte. Der Sprachforscher Moritz schließlich steht im Spannungsfeld zwischen einer für Goethe entscheidenden Theorie der dichterischen Sprache und seinen pragmatischen, sich oft an der Alltagssprache orientierenden Sprachlehren. Neben diesen (scheinbaren) epistemischen finden sich in seinen Werken auch eine Reihe von (scheinbaren) performativen Widersprüchen, wie etwa das Oszillieren zwischen diskursiver Abhandlung und Dichtung in fast allen ästhetischen Texten oder das hohe Maß von einmontiertem “Fremdmaterial” in Texten, die auf Originalität und Unverwechselbarkeit zielen.
Die ältere Forschung hat sich zumeist bemüht, diese Widersprüche zu harmonisieren, oder sie hat sie als defizitär im Hinblick auf Moritz’ Anspruch auf Klassizität gewertet. Elliott Schreiber geht in seiner konzisen Studie The Topography of Modernity: Karl Philipp Moritz and the Space of Autonomy einen anderen Weg. Er deutet Moritz’ Schriften als eine “seminal description of modernity” (2), die ihre diagnostische Schärfe und Aktualität gerade durch die Verweigerung eines harmonisierenden Standpunktes und durch die Erosion von Kohärenz und Geschlossenheit erhalten (und bewahren). Ausgehend von Max Webers These der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft in so ziale und institutionelle Sphären und unter Rekurs auf Niklas Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme liest Schreiber Moritz als frühen Konzeptualisten einer sich unendlich ausdifferenzierenden Moderne. Das Auseinanderfallen und die Autonomisierung der Bereiche des Politischen, Religiösen, der Wissenschaft, Ökonomie und Politik initiiert nach Weber einen permanenten Wandel und damit auch eine permanente Krise, die wesentlich zur Matrix der Moderne gehören. Die Diagnose dieser Krise und ihre Bejahung als wesentlicher Teil der Moderne ist für Schreiber der trigonometrische Punkt, von dem aus sich die Modernität der Moritz’schen Werke adäquat beschreiben und verstehen lässt.
Diese Diagnose geschieht in der klug disponierten Arbeit in drei Abschnitten, die je zwei Kapitel umfassen.
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- Goethe Yearbook 22 , pp. 306 - 310Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2015