1 - Zu Ende schreiben: Ultimative Strategien im Schaffen Kleists
Published online by Cambridge University Press: 14 February 2023
Summary
Eine Fundamentale Orientierung jeder ‘Moderne’ ist das Neue. Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert hat dieses besondere Konjunktur: Schöpfungsphantasien, Denken über Anfänge bestimmen den literarischen, ästhetischen, philosophischen, pädagogischen und nicht zuletzt den politischen Diskurs. Auch Kleist folgt dieser Orientierung, zeigt sich fasziniert von Anfängen. Man denke an die Rekurrenz von Motiven in seinem Werk wie dem des Sündenfalls oder der Verheißung einer neuen Zeit durch die Zeugung oder Geburt eines Heilsbringers oder an seinen Anspruch, ein Theaterstück (Penthesilea) geschrieben zu haben, das die Möglichkeiten eines jeden gegenwärtigen Theaters übersteigt. Kleist distanziert sich aber auch vom Kult des Neuen, wenn er etwa seinen Vorschlag zu einer Negativ-Pädagogik als “allerneuesten Erziehungsplan” (3:545) anpreist oder sein ambivalentes Lob der Seelandschaft Caspar David Friedrichs mit der Bemerkung einleitet, der Maler habe “eine ganz neue Bahn im Felde seiner Kunst gebrochen” (3:543). Solcher Ambivalenz gegenüber dem Neuen entspricht, dass Kleist sich ihm auf einem ungewöhnlichen Weg zuwendet, nicht auf dem absoluter Innovation, zu verstehen als creatio ex nihilo, wie sie Kant im Geniekapitel seiner Kritik der Urteilskraft entworfen hat, vielmehr auf dem eines ‘Zu-Ende-Schreibens,’ sei es von Motiven (wie die genannten des Sündenfalls oder der Geburt eines Heilsbringers), sei es von Diskursen (wie dem der Grazie), von ästhetisch-poetischen Konzeptionen (z.B. eines Erhabenen in der Kunst), von Mythen (am radikalsten des Mythos der Penthesilea) oder von Gattungen (der Tragödie). An einigen Beispielen sollen Verfahren und Leistungen dieses Zu-Ende-Schreiben bestimmt werden als ein vielleicht noch wenig in den Blick genommener Aspekt der Modernität Kleists wie dessen Anregungskraft für spätere Modernen.
Etwas zu Ende zu schreiben, kann sich auf die behandelte Sache beziehen — das Letzte, Äußerste, Ultimative einer Sache schreiben — oder auf den Vorgang — das letzte, äußerst mögliche Schreiben einer Sache. Beides umfasst, wie das Ende selbst, das Ziel oder Tod, Vollendung oder Endlichkeit beinhalten kann, zwei Möglichkeiten: entweder etwas zu seiner höchst möglichen Vollendung zu bringen, so dass ihm auf diese Stufe der Bearbeitung nichts mehr folgen kann, oder etwas zeitlich zu einem Ende zu bringen, so dass es nicht mehr fortgeführt werden kann, es z.B. zu zerstören, indem es in eine unauflösliche Aporie getrieben oder seiner Grundlagen umfassend beraubt wird.
- Type
- Chapter
- Information
- Heinrich von Kleist and Modernity , pp. 11 - 22Publisher: Boydell & BrewerPrint publication year: 2011