Published online by Cambridge University Press: 22 February 2024
“Es ist zwölf Uhr zwanzig. Ich hörte eben den Ansager in dem bombardierten London.” Brecht notierte dieses Zeitzeichen unter dem Datum 10. September 1940 in seinem später als Arbeitsjournal publizierten Tagebuch. Während die Datierung, die die Aufzeichnung prominent einleitet, denkbar konkret gemacht wird, lässt die Ortsangabe Raum für Interpretation: befindet sich der Ansager im bombardierten London, oder der Hörende selbst? Letztere Lesart schwingt natürlich nur durch die Doppeldeutigkeit der Grammatik mit. Ihre offenkundige Irrealität betont: der Hörende ist dem Ansager fern, der sich direkt am Kriegsschauplatz befindet, seine Gedanken aber sind durch die Radioübertragung dorthin versetzt.
Es handelt sich um eine Ortsbestimmung doppelter Art—festgeschrieben wird die Situation des Anderen, aber auch die eigene und damit das Verhältnis der beiden zu einander. Diese zweifache Verortung ist Grundlage jedweder Positionsnahme und damit politischer Äußerung. Georges Didi- Huberman formuliert das in einem Essay zu Brechts Arbeit mit Bildern im Exil aus: “Position beziehen, das bedeutet, sich mindestens zweimal zu situieren, an den mindestens zwei Fronten, die jede Position beinhaltet, da jede Position—auf schicksalhafte oder fatale Weise—relativ ist.”
Gerade in den Journalen der Exiljahre macht Brecht diesen Zusammenhang explizit. Nicht nur solche dokumentarischen Momente, wenn die Nachrichten mit Datumsangabe zitiert werden, erzeugen einen Eindruck von Gegenwärtigkeit. Die eigene Position, das ist die historische (in Bezug auf die Ereignisse der Weltgeschichte), die geografische (in Brechts Fall: die diversen Stationen des Exils) sowie die persönliche (das soziale Umfeld, Familie und Mitarbeiter, und der private Raum, die Wohnung). Auch die Materialität der Tagebücher verweist immer wieder auf Schreibbedingungen und -orte: es gibt zahlreiche Einklebungen aus amerikanischen, deutschen, dänischen, schwedischen und finnischen Presseerzeugnissen, die montageartig mit den Tagebucheinträgen verbunden sind. Besonders durch den Einsatz von ausgeschnittenem und eingeklebtem Material werden persönliche Arbeits- und Lebensbedingungen im Text gespiegelt. Auch hier klingt die Dialektik der zwei Positionen an, das Ins-Verhältnis-Setzen des Eigenen und des Anderen, des vorgefundenen, publizierten Materials und der eigenen Dokumentation der Gegenwart.
Geschnittenes und Geklebtes findet sich bei Brecht an vielen Stellen. Er hat sich selbst als “Meister der Klebeologie” bezeichnet, das Schneiden und Kleben also geradezu zu einer eigenen Wissenschaft erhoben. Diese Selbstbeschreibung Brechts ist durch drei Zeitzeugen überliefert: Hans Bunge zitiert Brecht 1958 und Erwin Strittmatter verwendet die gleiche Formulierung in einem Artikel über seine Eindrücke von Brecht 1957 in der Wochenpost. Ruth Berlau bestätigt diese Aussage als dritte, verwendet aber den Begriff “Klebologie.”
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