Wie kaum ein anderer Theoretiker des Austromarxismus hat sich Otto Bauer eingehend mit dem Faschismus beschäftigt. Sein Beitrag zur gedanklichen Durchdringung des historischen Rohmaterials hat auch heute kaum an Aktualität verloren. Zwar hat der Geschichtsprozeß seit den Analysen Bauers neue „Fakten” gehefert, die er wohl nicht geringer geschätzt hätte, als er es in seinen theoretischen und praktisch-politischen Arbeiten tat, die auch manche Einzelheiten seiner Darstellungen korrigieren oder ergänzen; zu einer grundsätzlichen Revision seiner Begriffsbestimmung des Faschismus in seinen letzten Lebensjahren sind weder Optimismus bezüglich der gesellschaftlichen Entwicklung in den ehemals faschistischen Ländern noch der Stand der heutigen Faschismusdiskussion Anlaß genug. Bauers Faschismus-interpretation beschränkt sich nicht auf die vorgeblich „objektive” Aneinanderreihung deskriptiver Satze - solche sind gewiB auch nötig –, sie hat vielmehr den Vorzug, im Rahmen einer exfliziten Theorie der Gesellschaft zu stehen und einen echten Erklärungsversuch anzuvisieren. Faschismus bleibt so nicht ein letztlich Unerklärbares, er wird aber auch wegen Bauers hoher Apperzeptionsfähigkeit nicht zur leeren Formel, die einerseits den historisch-empirischen Befund negiert, andererseits jede Form terroristischer Unterdrückung oder alle Formen bürgerlicher Herrschaft überhaupt gleichsetzt. Bauer hütet sich auch meist vor dem polemischen Gebrauch des Wortes Faschismus, der gerade in den letzten Jahren wieder auf der bürgerlichen Seite, aber auch bei der Linken nicht selten zu beobachten ist, obwohl gerade er nach 1934 alien Anlaß gehabt hätte; auch in der tiefsten Verbitterung nach der Niederlage der österreichischen Sozialdemokratie ist er im Stande, zwischen dem eigentlichen Faschismus in seiner italienischen und deutschen Spielart und halb- oder scheinfaschistischen Dikta-turen wie dem „christlichen Ständestaat” Dollfuß' zu differenzieren.